Die gute Seele
verlässlich

Die gute Seele

Streit, Stress, Sorgen: Schulsozialarbeiterin Anja Schröter fängt in der Siedlungsgrundschule in Bad Dürrenberg Probleme auf, für die den Lehrern oft keine Zeit bleibt. Doch ihre Stelle wurde gekürzt, die Zukunft ist unsicher – kein Einzelfall.

Anja Schröter pikst unbeholfen mit dem Buttermesser in das Brötchen vor sich. Die 46-Jährige spielt hier in der 3B an der Siedlungsgrundschule in Bad Dürrenberg (Saalekreis) heute eine Frau vom Mars. Und sie mimt eine hungrige Außerirdische. Zufällig kann die zwar deutsch, klar. Wie man ein Brötchen schmiert, weiß sie aber nicht. Das sollen ihr die Grundschüler erklären – zur Not mit Händen und Füßen.

Gar nicht so einfach: Prompt setzt die „Marsianerin“ das Messer auf der Oberseite des Brötchens an. Falsch. Die Kinder kichern. Schnell merken sie aber, worum es geht: „Um Kommuni…Kommunikation“, sagt Jeremy. Und das heißt? „Man muss gut zuhören.“

Schulsozialarbeiterin Anja Schröter in der Klasse 3B in Bad Dürrenberg: Bei Kommunikationsübungen lernen die Kinder, wie sie Missverständnisse vermeiden und Streit schlichten.

Offenes Ohr für 140 Schüler

Kleine Übung, große Einsicht: Sozialtrainings wie dieses gehören zum täglich Brot für Schulsozialarbeiterin Anja Schröter. Für die 140 Grundschüler ist sie Ansprechpartnerin bei allem, was nicht den Lehrstoff betrifft. Und das ist viel. „Ich hatte noch nie einen Tag Langeweile.“Stress, Streit, Sorgen – haben die Kinder untereinander oder mit ihren Eltern Probleme, nimmt Schröter sich Zeit, hört zu, klärt auf, tröstet. Das sei eine große Stütze, sagt Schulleiterin Ina Herfurth. „Wenn die Probleme nicht aufgefangen werden, können die Kinder nicht richtig lernen“. Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband haben in Sachsen-Anhalt allerdings 40 Prozent der Schulen keine Sozialarbeiterin. Und dass Schröter überhaupt noch in der Siedlungsgrundschule arbeitet, verdankt sie dem hartnäckigen Einsatz der Schulgemeinschaft. Ob sie aber auch die kommenden Jahre bleiben darf, ist unklar. Wie in so vielen Schulen. Einige Minuten vor dem Klassentraining der 3B. In ihrem Sitzungsraum zwischen Boxsack und Plüschtieren nippt die Sozialpädagogin an ihrem Kaffee. Seit zehn Jahren arbeitet die Frau mit der großen Brille und dem wachen Blick hier. Der Bedarf nach Unterstützung sei seitdem gewachsen, sagt sie. Da waren die Lockdowns. Bis heute sorge die Isolation für Probleme bei einigen Kindern. Sie könnten sich schlechter ausdrücken, schlechter schreiben.Außerdem: „Der Medienkonsum haut ganz schön rein.“ Computerspiele und Realität verschwimmen für viele Schüler. Sie spielen etwa Kriegsspiele auf dem Pausenhof nach – ohne die Gewalt einordnen zu können. „Ich fange sowas auf“, sagt Schröter. Mit Gruppenübungen, Einzelstunden. Ihre Zeit ist allerdings knapp.

Seit vergangenem Sommer muss die Grundschule sich ihre Schulsozialarbeiterin mit einer anderen Schule teilen. Eigentlich hätte man sie ganz abziehen wollen, sagt Schulleiterin Herfurth. Der Grund: Die sogenannte Prioritätenliste, auf deren Grundlage die Behörden die knappen Sozialarbeiter an die bedürftigsten Schulen verteilen. Denn für alle reicht das Personal nicht.

Die Siedlungsgrundschule sei dabei zuletzt durchs Raster gefallen, sagt Herfurth. Dabei sei Bad Dürrenberg eine Stadt mit relativ vielen sozialen Problemen. „Wir sind eine besondere Schule.“ Anja Schröter einfach gehen lassen? Das kam nicht in Frage. Also schrieb sie Briefe. An Landespolitiker, Minister, den Landrat, den Bürgermeister. Schließlich zogen die Kinder sogar mit Plakaten vor das Rathaus. „Wir waren gut unterwegs“, sagt Herfurth.

Es ist nicht die einzige bürokratische Hürde: Schulsozialarbeiter hangeln sich stets von Vertrag zu Vertrag. Denn finanziert werden sie zum Großteil über EU-Geld. Regelmäßig muss Schröter daher Projektanträge stellen, in denen sie ihre Arbeit begründet. Das heißt: viel Papierkram. Und ob der nächste Antrag für die Zeit nach 2024 bewilligt wird? Unklar. Sie ist inzwischen zwar fest angestellt, könnte dann aber einer anderen Schule zugewiesen werden. Wenig Zeit, unsichere Zukunft, ein Zettelkampf – kein gutes System, findet Schröter. „Darunter leidet die Qualität meiner Arbeit.“

Zurück zur 3B. Ein neues Spiel: Schröter hält ein kleines Bild hoch. Darauf sind Kinder in bunten Pullis zu sehen, ein Windrad, die Sonne. Die Acht- bis Zehnjährigen sollen ihren Mitschülern nun die Szene beschreiben. Der Kniff: Nur ein Kind hat das Bild tatsächlich gesehen. Stille Post quasi. Da geht es schnell durcheinander: Der grüne Pulli ist plötzlich blau, die Zahl der Personen steigt und sinkt, Dinge werden hinzugedichtet oder weggelassen. Die Schulsozialarbeiterin erklärt: „Das passiert wenn man nicht direkt mit den Beteiligten spricht. Es entstehen Gerüchte. Wie beim Streit heute morgen.“

Solche Übungen zahlten sich aus, sagt die Pädagogin. Konflikte würden vermieden, Stress vorgebeugt. Denn auch die Drittklässler haben ihr Päckchen zu tragen. Ihren ersten Lockdown erlebten sie schon in der Kita. Heute sei es ein ruhige Klasse, sagt Schröter. Das liegt wohl auch an ihr.

Von einer flächendeckenden Schulsozialarbeit ist Sachsen-Anhalt laut Mirko Günther, Landesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, indes noch weit entfernt. 59 Schulsozialarbeiter in verschiedenen Landkreisen beschäftigt der Verband. Doch es gebe zu wenige im Land, findet Günther. „Der Druck aus den Schulen nimmt zu.“ Auch aufgund des Lehrermangels. Immer mehr Einrichtungen stellten Anträge, um auf die Prioritätenlisten zu kommen, immer mehr gehen daher auch leer aus.

Günther plädiert dafür, Schulsozialarbeiter an jeder Schule einzusetzen. Sein Vorschlag: Da viele Stellen für Lehrer ohnehin unbesetzt sind, könne man dieses Budget für die Sozialarbeit nutzen. Das Bildungsministerium sah sich auf MZ-Nachfrage jedoch nicht in der Lage, innerhalb von zwei Tagen zur Schulsozialarbeit Auskunft zu geben. Zuvor hatte das Land den Vorstoß der Träger jedoch zurückgewiesen. Das nicht genug Geld da sei, will Günther aber nicht gelten lassen. „Das ist eine Ausrede.“

Schulleiterin übt Kritik

Auch in der Siedlungsgrundschule ist man enttäuscht von den Behörden. Im Koalitionsvertrag der Landesregierung heißt es: „Schulsozialarbeit ist ein fester Bestandteil der Schullandschaft.“ Für Ina Herfurth sind das allerdings leere Worte: „Das pinseln die da rein, aber es wird nicht umgesetzt.“ Sie befürchtet, dass ihre Schule in der nächsten Förderperiode ohne Schulsozialarbeiterin dastehen könnte. Wie so viele andere Häuser.

Und unter der geteilten Stelle leide ihre Arbeit schon jetzt, sagt Schröter. Im Dezember sei eine Mutter zu ihr gekommen. Anlass: Stress mit ihrem Kind. Der nächste Termin? Steht erst jetzt an, im Februar. „Das Kind macht dann einen Riesenrucksack auf.“

In der 3B ist die Trainingsstunde nun vorbei. Eifrig räumen die Kinder die Stühle beiseite. Da platzt es aus Frida heraus: „Ich mag Frau Schröter.“ Ihre Mitschüler stimmen ein. Sie kämen zu ihr, wenn es Streit mit den Eltern gibt, wenn die Jungs sich prügeln, wenn sie wütend sind. „Das habe ich oft. Sie beruhigt mich dann“, sagt Jeremy. Einmal, als es fast soweit war, als Schröter abgezogen werden sollte, habe er sogar geweint. „Ich auch“, schallt es aus dem Klassenraum. Und nochmal. Anja Schröter lächelt, senkt den Kopf. Sie kenne jedes der 140 Kinder an der Schule mit Namen, sagt sie. Viele begleitet sie seit der Einschulung. Eine enge Verbindung. Aber dafür ist eben kein Platz in den Projektanträgen, der Finanzplanung.

Strittige Finanzen

Es war ein langes Ringen, doch inzwischen gelten die Schulsozialarbeiterstellen in Sachsen-Anhalt als gesichert. Bis 2024 finanzieren nach Angaben des Bildungsministeriums das Land und die EU die etwa 480 Schulsozialarbeiter im Land. Anschließend müssen auch die Kommunen einen Teil der Kosten stemmen. Die meisten haben das jedoch zugesagt.

Doch die Sozialarbeiter werden immer wieder umverteilt. Nicht nur bestimmen die Kommunen anhand von Prioritätenlisten regelmäßig neu, welche Schulen am bedürftigsten sind und eine Stelle bekommen. Auch eine Jury auf Landesebene hat hier ein Mitbestimmungsrecht. Das sorgt dafür, dass in manchen Schulen regelmäßig Stellen wackeln. Denn die Nachfrage übersteigt den geplanten Bedarf. Das betrifft Grundschulen besonders häufig. Zwar können die Kommunen Sozialarbeiter im Fall einer Umverteilung auch auf eigene Kosten erhalten – vielen fehlt jedoch das Geld dafür.

Kommentar zum Artikel:

Es reicht eine kurze Rückbesinnung auf die eigene Schulzeit, um sich klar zu machen: Im Klassenzimmer geht es längst nicht nur ums Schreiben und Rechnen. Hier lernen die Handwerker, Polizisten und Bundeskanzler von morgen, wie man mit Menschen umgeht, Konflikte klärt, Freunde findet. Die aktuelle Schülergeneration in Sachsen-Anhalt hat es dabei besonders schwer: Sie haben die Pandemie erduldet, erleben ein digitales Zeitalter, einen massiven Lehrermangel. Vor diesem Hintergrund ist die angespannte Situation der Schulsozialarbeiter fatal. Dabei hatte die Landesregierung Besserung versprochen.

Denn von der im Koalitionsvertrag angepriesenen „Verstetigung“ ist bislang wenig zu spüren. Das ist am Ende auch eine Frage der Auslegung, sicher. Ein Stellenabbau ist aktuell nicht zu befürchtet. Aber: Noch immer hangeln sich viele Sozialpädagogen in den Schulen von Jahresvertrag zu Jahresvertrag, werden umhergeschoben, müssen um ihren Einsatzort und um ihre Schüler bangen. So können sie ihrer Rolle nicht gerecht werden.“

– Max Hunger, Reporter MZ

verlässlich, leidenschaftlich und wirkungsvoll